System 1 und System 2

Daniel Kahnemans grundlegendes Modell für unser Denken

System 1 - schnell, hilfreich, aber fehleranfällig
System 2 - langsam, analytisch, aber nur begrenzt verfügbar
Ideales Zusammenspiel und Grundlage für De-Biasing
Alle Fachbegriffe

    Die Fähigkeiten des menschlichen Gehirns sind beeindruckend – und wohl der entscheidende Grund, dass wir uns als Spezies evolutionär behaupten konnten.

    Eine wesentliche Eigenschaft unseres Gehirns betrifft die Art und Weise sowie die Effizienz der Informationsverarbeitung. Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat zur Veranschaulichung der Funktionsweise unseres Gehirns die Begriffe System 1 und System 2 populär gemacht.

    Wie sind dies Begriffe zu verstehen und wie sollen wir damit umgehen? Tauchen wir näher ein, um die praktische Relevanz von System 1 und 2 zu besprechen.

    War Daniel Kahneman System 1 und System 2 Erfinder?

    Daniel Kahneman wird oft als Schöpfer der Begriffe System 1 und System 2 bezeichnet. Wie er selbst in seinem bekanntesten Werk Thinking, Fast and Slow (2011) beschreibt, gehen sie auf andere Forscher zurück. Die Psychologen Keith Stanovich und Richard West entwickelten diese Begriffe in den späten 1990er Jahren. Sie beschrieben damit zwei Arten von kognitiven Prozessen, die an der Argumentation und Entscheidungsfindung beteiligt sind. Ihre Arbeit legte den Grundstein für die duale Prozesstheorie des Denkens, in der zwischen diesen beiden Systemen unterschieden wird.

    Kahneman verband diese Forschungsarbeiten mit seinen, weitgehend gemeinsam mit Amos Tversky entwickelten, Theorien. Im Buch Thinking, Fast and Slow (deutsche – etwa unpräzise – Übersetzung Schnelles Denken, langsames Denken) verwendete er System 1 und 2 zur Illustration von kognitiven Prozessen und popularisierte die beiden Begriffe. Er machte dabei deutlich klar, dass die Funktionsweise unseres Gehirns wesentlich komplexer ist als die Verkürzung auf System 1 und 2 suggeriert – es handelt sich um eine Metapher.

    Kahnemans Arbeit, insbesondere seine Erforschung der Frage, wie diese beiden Systeme das Urteilsvermögen und die Entscheidungsfindung beeinflussen, hat großen Einfluss auf die Psychologie, die Verhaltensökonomie und darüber hinaus. Sie umfasst jahrzehntelange Forschung von ihm und Tversky zu kognitiven Verzerrungen, Heuristiken und Entscheidungsfindung.

    System 1: wertvoller Autopilot und gleichzeitig Ursache für Biases

    System 1 beschreibt die schnelle, automatische und intuitive Art des Denkens, die mühelos und schnell funktioniert, oft ohne bewusstes Erkennen. Es stützt sich auf Heuristiken – mentale Abkürzungen oder Faustregeln – um Entscheidungen und Urteile zu treffen. System 1 wird von Emotionen, Erfahrungen und Mustern beeinflusst, die im Laufe der Zeit erlernt wurden. Es ist sehr effizient bei der Bewältigung von Routineaufgaben oder in Situationen, in denen schnelle Reaktionen erforderlich sind. Es ist jedoch auch anfällig für Verzerrungen und Fehler und stellt daher die wesentliche Voraussetzung für das Entstehen von Unconscious Biases dar.

    Daher: System 1 – unser Autopilot – funktioniert die überwiegende Zeit fehlerfrei und lenkt uns, ohne dass wir es bewusst mitbekommen. Der Autopilot macht aber auch Fehler – um diese überhaupt zu bemerken und zu beheben, brauchen wir ein zweites System.

    Kennzeichen von System 1

    • Automatisch: Funktioniert ohne bewusste Anstrengung oder willentliche Kontrolle.
    • Schnell: Verarbeitet Informationen in kürzester Zeit.
    • Intuitiv: Basiert auf Instinkt (dem oft zitierten „Bauchgefühl“).
    • Emotional: Beeinflusst von Emotionen und Stimmungen.
    • Kontextabhängig: Trifft Urteile auf der Grundlage des Kontexts und des vorhandenen Wissens.
    • Mustererkennung: Identifiziert schnell Muster und Ähnlichkeiten.
    • Heuristisch gesteuert: Verwendet mentale Abkürzungen, um Probleme schnell zu lösen.

    System 1 hat sich evolutionär bewährt, da es schnelle Reaktionen ermöglicht. Fürs Überleben unserer Spezies in gefährlichen Situationen war dies entscheidend. Wir können darauf noch immer zurückgreifen, etwa bei einer Gefahrensituation im Straßenverkehr.

    Das Limit von System 1 besteht in der beschränkten Möglichkeit komplexe und neue Situationen zu bewerkstelligen. Das verwendete Muster bzw. die angewandte Heuristik funktioniert nur in einem bereits bekannten Kontext fehlerfrei.

    Tipp: wir besprechen die Wichtigkeit von System 1 bei der Entstehung von Biases im Kurs Einführung in die Welt der Unconscious Biases. Dort erfährst du, wie du deine automatischen Muster dann kontollierst, wenn es für dich nachteilig werden könnte.

     

    Beispiele für System 1

    Was sind praktische Beispiele für System 1 im täglichen Leben?

    • Ein bekanntes Gesicht in einer Menschenmenge erkennen
    • 3 +2 = ?
    • Einfache Wörter lesen
    • Ein bekanntes Produkt im Supermarkt kaufen
    • Feindselige Stimmung bei anderen erkennen

    System 2 – das uns wesentlich besser bekannte Modell

    Komplexe Fragestellungen brauchen einen anderen Zugang. System 2 ist die langsame, überlegte und analytische Denkweise, die bewusste Anstrengung und Aufmerksamkeit erfordert. Es ist verantwortlich für komplexe Denk-, Problemlösungs- und Entscheidungsprozesse, die eine sorgfältige Abwägung von Optionen und Beweisen erfordern. Im Gegensatz zu System 1, das automatisch arbeitet, wird System 2 aktiviert, wenn Aufgaben Konzentration, Logik und kritisches Denken erfordern. Es ist zuverlässiger bei der Vermeidung von Fehlern und Voreingenommenheit, aber auch geistig anstrengender und zeitaufwändiger. Da wir es bewusst wahrnehmen, setzen wir unser gesamtes Denken mit ihm gleich. Dabei berücksichtigen wir jedoch nicht, dass System 2 nur einen Teiil unserer Gehirnfunktionen ausmacht und im Vergleich mit System 1 nur einen Bruchteil entscheidet.

    System 2 ist für unser Thema essentiell – es ist die Grundlage Biases bei uns und anderen zu erkennen, zu verstehen und Gegenmaßnahmen einzuleiten. Es ist die Basis für De-Biasing.

     

    Kennzeichen von System 2

    • Bewusst: Beinhaltet bewusste Kontrolle und absichtliches Denken.
    • Langsam: Verarbeitet Informationen eher langsam und methodisch.
    • Analytisch: Verwendet logische Argumente und kritisches Denken.
    • Anstrengend: Erfordert geistige Energie und Konzentration.
    • Reflektierend: Bewertet Informationen und denkt darüber nach, bevor es eine Entscheidung trifft.
    • Regelbasiert: Hält sich an formale Regeln, Verfahren und Strategien.
    • Faul: Laut Kahneman schaltet es sich nicht immer ein, wenn es nötig wäre (daher „lazy“)

     

    Wir assoziieren unser Denken stark mit System 2, dies ist uns im Gegensatz zu System 1 bewusst. Es muss uns im Klaren sein, dass es nur einen kleinen Teil der kognitiven Arbeit des Gehirns abdeckt. Mehr als 90% (laut manchen Studien über 99%) an Beurteilungen und Entscheidungen treffen wir im System 1.

     

    Beispiele System 2:

    Was sind Situationen im täglichen Leben, wo wir System 2 aktiv nutzen?

    • Konzentration auf eine Stimme in einem lauten Raum voller Menschen
    • Die Telefonnummer einer Freundin aus dem Gedächtnis abrufen
    • 21 * 17 = ?
    • Eine neue Fähigkeit erlernen
    • Reflexion und Wahrnehmen eigenen Verhaltens

     

    System 1 und 2: Welches ist besser für uns?

    System 1 und System 2 sind als Metapher bzw. Konzept sehr gut verwendbar, um das Vorhandensein von Unconscious Biases zu erklären.

    • Die schlechte Nachricht: Unser Autopilot fährt manchmal falsch.
    • Die gute Nachricht: wir haben die Ressourcen das zu ändern.

    Durch die unbewusste Natur des System 1 unterschätzen wir Menschen tendenziell dessen Umfang und den Effekt. Daher sind uns eigene Biases häufig nicht klar, der Begriff des „bias blind spot“ bezeichnet dieses Phänomen. Wir sehen vielleicht die Auswirkungen ihrer Biases auf sie selbst oder ihr Umfeld (daher die Symptome), erkennen aber nicht deren Ursachen. Die Aktivierung von System 2 im De-Biasing Prozess setzt hier an.

    Eine schnelle Reaktion könnte nun sein, dass System 2 wichtiger oder besser für uns sei. Diese Frage kommt auch immer wieder bei Vorträgen oder Workshops auf. System 1 ist nicht weniger wertvoll als sein Pendant, es hilft uns die meisten Situationen des täglichen Lebens mit wenig Anstrengung zu meistern.

    Es geht daher nicht um besser oder schlechter – beide Mechanismen haben verschiedene Vor- und Nachteile. Wir könnten nicht mit nur einem auskommen. Es geht darum, uns klar zu werden, in welchen Situationen welches System nützlich ist und wann nicht. Daniel Kahneman betont, dass unsere Entscheidungen, unsere Interaktion mit anderen Menschen und generell unser Verhalten ganz wesentlich vom Zusammenspiel der beiden Systeme geprägt sind.

    Vergessen wir auch nicht: System 2 ist in der Lage, fehlerhafte Muster, Routinen und Biases zu beheben – De-Biasing ist die Methode dafür. Im Kurs Einführung in die Welt der Unconscious Biases widmen wir dem „Wie“ ein eigenes Kapitel. Das Ziel dabei ist, die Denk- und Handlungsmuster des System 1 schrittweise zu verändern und so zu verbessern. System 1 reagiert extrem schnell, aber es „lernt“ nur sehr langsam.

    Welche Vorteile hat die Beschäftigung mit System 1 und 2

    Die Beschäftigung mit der Funktionsweise unseres Gehirns macht fürs praktische Leben Sinn. Das Konzept von System 1 und System 2 bietet dabei einen leicht verständlichen Startpunkt. Das Verständnis dieser beiden Denkweisen kann Einzelpersonen und Organisationen helfen, bessere Ergebnisse zu erzielen. Hier sind die wichtigsten Vorteile:

    • Verbesserte Entscheidungsfindung:
      Das Erkennen, wann System 1 für schnelle, routinemäßige Entscheidungen und System 2 für komplexe, wichtige Entscheidungen zu verwenden ist, ermöglicht dir eine effizientere und genauere Entscheidungsfindung.
    • Verringerung kognitiver Verzerrungen:
      Das Bewusstsein für Biases hilft dir, System 2 einzusetzen, um ihnen entgegenzuwirken. Dies führt zu Fortschritten in praktischen Anwendungsfeldern wie Beurteilung, Entscheidung oder Interaktion mit anderen.
    • Verbesserte Selbstwahrnehmung und Selbstkontrolle: Das Verständnis des Einflusses von System 1 hilft dir, impulsive Entscheidungen zu verringern bzw. zu vermeiden. Dies ermöglicht eine bessere Ausrichtung auf langfristige Ziele durch den bewussten Einsatz von System 2
    • Bessere Problemlösungsfähigkeit und Kreativität:
      System 2 ermöglicht dir eine effektive Problemlösung und verfeinert kreative Ideen in praktische Lösungen, insbesondere für komplexe Herausforderungen.
    • Verbessertes Lernen und Kompetenzentwicklung:
      Der Einsatz von System 2 beim Lernen sorgt für ein tieferes Verständnis sowie den Ausbau von Fertigkeiten und Fähigkeiten (näheres dazu im Artikel zum kompetenzbasierten Lernen). Die Wiederholung von Aufgaben dazu führt, dass sie in System 1 integriert und somit automatisch erledigt werden.
    • Verbesserte Kommunikation und Kollaboration:
      Das Bewusstsein für System 1 und System 2 in Gruppen führt zu fundierteren Diskussionen, besserer Entscheidungsfindung und größerem Einfühlungsvermögen.
    • Strategische Planung und Risikomanagement:
      Die Verwendung von System 2 für die langfristige Planung und Risikobewertung stellt sicher, dass Entscheidungen wohlüberlegt und auf die übergeordneten Ziele abgestimmt sind. Im Kurs Risiko erfährst du, wie du De-Biasing schrittweise einsetzen kannst.

     

    Unconscious Biases basieren immer auf individuellen Mustern. Jede Person weist eine Vielzahl von Biases auf, die einzigartig hinsichtlich Ausprägung und das Zusammenspiel sind. Die Beschäftigung mit System 1 und 2 unterstützt dich dabei, deine eigenen Denk- und Handlungsmuster zu verstehen – denn deine De-Biasing Maßnahmen müssen ebenfalls individuell sein.

     

    Weiterführende Quellen:

    • Kahneman, D. (2011). Thinking, Fast and Slow
    • Evans, J. St. B. T. (2008). “Dual-processing accounts of reasoning, judgment, and social cognition.” Annual Review of Psychology, 59, 255-278.
    • Stanovich, K. E., & West, R. F. (2000). “Individual differences in reasoning: Implications for the rationality debate?” Behavioral and Brain Sciences, 23(5), 645-726.
    • Sloman, S. A. (1996). “The empirical case for two systems of reasoning.” Psychological Bulletin, 119(1), 3-22
    • Tversky, A., & Kahneman, D. (1974). “Judgment under uncertainty: Heuristics and biases.” Science, 185(4157), 1124-1131.

     

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