Verlustaversion - Loss Aversion

Warum du Verluste stärker spürst als Gewinne – und was das mit deinem Alltag zu tun hat

Die Hintergründe und Studien von Kahneman und Tversky
Beispiele aus dem Alltag und was du anders machen kannst
Wichtige Querverbindungen und Empfehlungen
Alle Biases

Stell dir vor, du findest 50 Euro auf der Straße. Jetzt stell dir vor, du verlierst 50 Euro aus deiner Geldbörse. Welche dieser beiden Situationen würdest du emotional intensiver erleben?

Wenn du wie die meisten Menschen tickst, dann hat der Verlust deutlich mehr Gewicht – willkommen bei der Verlustaversion (engl. Loss Aversion). Sie ist eine der wichtigsten und am besten belegten kognitiven Verzerrungen. Sie beeinflusst unzählige Entscheidungen im Alltag ebenso wie im Berufsleben: beim Investieren, bei der Jobsuche oder sogar beim Aufräumen deines Kleiderschranks.

Was bedeutet Verlustaversion genau?

Verlustaversion (engl. Loss Aversion) beschreibt unsere Tendenz, Verluste stärker zu empfinden als Gewinne in derselben Größenordnung. Diese verzerrte Wahrnehmung wirkt sehr stark – sie bewegt sich laut verschiedenster Studien zwischen den Faktoren 1,5 – 2,5 (als Faustregel merke dir am besten 2:1).
Das bedeutet auf unser Anfangsbeispiel umgemünzt: Du empfindest den Verlust von 50 Euro emotional in etwa gleich stark wie den Gewinn von 100 Euro.

Die Loss Aversion ist zentraler Bestandteil der Prospect Theory, die von den Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky entwickelt wurde („losses loom larger than gains“). Diese Theorie revolutionierte das Verständnis wirtschaftlicher Entscheidungen und brachte Kahneman 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ein. Sie erkannten als zweiten wesentlichen Punkt bei der Verlustaversion, dass unser Ausgangspunkt unsere Beurteilung prägt. Eine Person mit Mindesteinkommen wird den Verlust von 50 Euro stärker empfinden als eine Miliionärin.

Tipp: Wir behandeln die Prospect Theory im Kurs Risiko vertiefend, da sie unsere Wahrnehmung von Risiken und unseren Umgang damit stark prägt – die Effekte der Verlustaversion sind dabei ein zentraler Punkt.

 

Warum reagieren wir so stark auf Verluste?

Aus evolutionärer Sicht war es sinnvoll, Risiken möglichst zu vermeiden. In der Menschheitsgeschichte ging es die meiste Zeit ums nackte Überleben – das Verlieren von Ressourcen wie etwa Nahrung, Schutz oder sozialen Bindungen konnte tödlich ausgehen. Unser Gehirn bildete daher Muster, um diese Verluste zu vermeiden oder zu begrenzen. Diese sogenannten Heuristiken haben sich seitdem nur wenig verändert, evolutionär liegt nicht ausreichend Zeit zwischen damals und heute.

Die meisten Menschen leben heute unter anderen Umständen, ihr „System 1“ reagiert aber noch immer rasch und intuitiv auf alles, was wir als Verlust empfinden. Dieses Faktum ist durch Studien gut belegt: Studien mit bildgebenden Verfahren (z. B. Tom et al., 2007) haben etwa gezeigt, dass beim Gedanken an Verluste bestimmte Regionen im Gehirn aktiviert werden – dieselben Areale, die auch bei Angst oder Bedrohung reagieren. Diese fMRI-Studie zeigte daneben, dass diese negativen Reaktionen doppelt so stark waren wie positive Reaktionen auf gleich hohe Gewinne. Das bereits geschilderte Verhältnis von 2:1-Regel lässt sich daher auch auf neuronaler Ebene finden.

Du hast wahrscheinlich bereits bei dir oder anderen Menschen bemerkt, dass mögliche Verluste stärker wirken als Gewinne. Der Effekt hat jedoch Auswirkungen auf Bereiche des täglichen Lebens, die dir vielleicht nicht alle klar sind.

Wie die Loss Aversion dein Verhalten beeinflusst

Die Verlustaversion begegnet dir in vielen Lebensbereichen – oft, ohne dass du es merkst. Die Auswirkungen sind subtil, aber kraftvoll. Hier sind drei typische Situationen, in denen sie deine Entscheidungen im Privatleben prägen kann:

  • Du hältst an schlechten Investitionen fest:
    Vielleicht hast du in Aktien investiert oder in eine Geschäftsidee – und obwohl es bergab geht, hältst du daran fest. Nicht, weil du überzeugt bist, sondern weil du den Verlust nicht akzeptieren willst. Das tut weh: Der Blick auf die roten Zahlen löst Unbehagen aus. Lieber wartest du, hoffst, rechnest dir den „Break-even“ schön – und verlierst am Ende oft mehr. Das ist klassische Verlustaversion: Lieber weiter verlieren als sich eingestehen, dass man schon verloren hat.
  • Du trennst dich schwer von Dingen
    Dein Kleiderschrank ist voll, aber du ziehst doch immer dieselben drei Pullover an? Du behältst Dinge – Bücher, Smartphones, alte Geschenke – nicht weil du sie brauchst, sondern weil du dich beim Weggeben schlecht fühlst. Dabei ist es der Gedanke an den Verlust, nicht der tatsächliche Wert. Jeder Gegenstand steht für eine kleine Geschichte, eine Möglichkeit, eine Erinnerung. Wegwerfen fühlt sich an wie Abschied – auch wenn es nur ein altes Ladekabel ist. 
  • Du argumentierst anders, wenn es um Verluste geht
    Auch in Gesprächen zeigt sich Verlustaversion: Wenn du jemanden überzeugen willst, erreichst du oft mehr, wenn du den Verlust betonst, der ohne eine Handlung droht – statt den Gewinn, der winkt. Das funktioniert auch umgekehrt. Vielleicht erinnerst du dich an einen Moment, in dem du ein Produkt nur gekauft hast, weil es „bald ausverkauft“ war oder „nur noch heute verfügbar“. Dieses Gefühl, etwas verpassen zu können, trifft uns emotional – weil Verluste für uns psychologisch realer sind als Chancen.

Welche Faktoren diesen Bias verstärken

Fassen wir zunächst die wichtigsten Punkte zusammen:

  • Ausgehend vom persönlichen Status Quo empfinden Menschen Verluste stärker als Gewinne; die Faustregel 2:1 ist hier ein guter Ausgangspunkt.
  • Eine Konsequenz ist, dass Menschen Sicherheit bzw. Gewohnheit bevorzugen, um mögliche Verluste von vornherein auszuschließen. Dieses Verhalten führt dazu, zu wenig Risiko einzugehen, wenn es sinnvoll wäre (im Kurs Risiko erklären wir ausführlich, was Risiko bedeutet und dass es grundsätzlich nichts Negatives bedeutet). Gleichzeitig sagt uns die Prospect Theory, dass wir zu viel Risiko nehmen, wenn wir Verlust befürchten. Diese beiden Folgen der Loss Aversion machen die Auswirkungen dieses Bias bedeutsam.
  • Die Beispiele aus dem privaten Bereich zeigen dir, dass die Verlustaversion viele Bereiche des täglichen Lebens berührt, daher nicht nur materielle Fragen rund ums Geld.
  • Studien haben gezeigt, dass die Ausprägung der Loss Aversion höher bei Aspekten ist, die wichtiger als Geld sind. Ein Beispiel wäre etwa, wenn man eine Gefährdung der Gesundheit befürchtet.
  • Dieser Bias kann etwas getriggert werden, etwa durch Werbung. Da Menschen Verluste emotional stark spüren, sind sie gegenüber Botschaften sehr empfänglich, die diese thematisieren. Diese Art von Manipulation kann man im kommerziellen Bereich ebenso bemerken wie im medialen oder politischen.

 

Überlege kurz: Bei welchen Themen reagiere ich besonders verlust- bzw. risikoavers? Was befürchte ich konkret? Werde ich dabei von anderen getriggert?

 

Loss Aversion im Beruf

Die Verlustaversion ist nicht auf die beschriebenen Anwendungsfelder im privaten Bereich beschränkt. Sie betrifft die Entscheidungsfindung in Unternehmen etwa bei Themen wie Investitionen, Managementmeetings, Personalfragen, Risikomanagement oder Innovation.

Das Vorsichtsprinzip, das in Europa in vielen Ländern als Teil der Bewertungsvorschriften im Finanzbereich vorgeschrieben ist, drückt direkt aus, dass Verluste möglichst vermieden werden sollen.

Die immateriellen Aspekte bei der Loss Aversion sind in Organisationen ebenfalls höchst relevant. Ziele, Strategien oder Ideen sind Ausdruck menschlicher Ambitionen in diesem Kontext. Deren Bedrohungen werden sehr deutlich wahrgenommen, ein Abgehen von ihnen fällt manchmal schwer und findet zu spät statt. Dagegen haben es neue Optionen oder Innovationen oft schwer, da die möglichen Gewinne zwar höher sein könnten als die bestehenden Pläne, das Abgehen von bisherigen Pfaden aber als Verlust empfunden werden könnte.

 

Die Verlustaversion wird praktisch durch andere Biases verstärkt, hier eine Auswahl:

  • Verfügbarkeitsheuristik: Die Neigung für Drama und „laute“ Nachrichten mache uns empfänglich für Botschaften, die wir als Bedrohung (= mögliche Verluste) empfinden.
  • Status Quo Bias: Ein Abrücken vom Status Quo wird als Verlust wahrgenommen.
  • Priming: Die regelmäßige Wiederholung bzw. Erfahrung mit Bekanntem verfestigt den Status Quo.
  • Sunk Cost Fallacy: Projekte werden weitergeführt, obwohl es bessere Optionen gäbe – Stoppen wird als Verlust interpretiert.
  • Endowment-Effekt: Wir schätzen Dinge in unserem Besitz höher ein als vergleichbare Dinge, die wir nicht besitzen. Daher trifft uns ein möglicher Verlust stark.

 

Das Zusammenspiel mit diesen und noch etlichen weiteren psychologischen Effekten macht die Loss Aversion zu einem der relevantesten Effekte überhaupt. Sie stellt das Bild des stets rational entscheidenden Menschen, der lange Zeit das dominierende Modell in der Wirtschaftswissenschaft und Entscheidungsfindung war, massiv in Frage. Die Forschungen von Kahneman und Tversky waren elementar, um das Verhalten von uns Menschen treffender zu beschreiben.

Was kannst du gegen Verlustaversion tun?

Verlustaversion ist kein Fehler in deinem Denken – sie ist ein Schutzmechanismus. Aber wie viele Schutzmechanismen greift sie manchmal zu früh und zu stark. Die gute Nachricht: Wenn du sie erkennst, kannst du bewusst gegensteuern. Hier sind fünf Wege, wie du dich Schritt für Schritt davon lösen kannst – mit praktischen Beispielen aus dem Alltag:

Inhalt nur für Mitglieder

Du bist bereits Mitglied? Hier einloggen

Du siehst: Erste Schritte gegen diesen mächtigen Bias sind relativ einfach möglich. Bei regelmäßiger Anwendung gelingt es, die Auswirkungen immer weiter einzuschränken.

Was bedeutet das für dich?

Vielleicht erinnerst du dich an die 50 Euro vom Anfang. Diese kleine gedankliche Übung zeigt, wie stark unser emotionales Bewertungssystem verzerrt ist. Aber genau dieses Bewusstsein ist der erste Schritt: Wenn du Verlustaversion erkennst, kannst du sie auch entkräften.

Egal ob du gerade eine schwierige Entscheidung triffst, dich von Dingen trennen willst oder mutiger investieren möchtest – das Wissen über Verlustaversion gibt dir ein mächtiges Werkzeug an die Hand, um klüger zu handeln.

Wir haben den beruflichen Kontext in diesem Artikel nur gestreift. Speziell für Führungskräfte stellt die Loss Aversion ein höchst relevantes Thema dar, da es oft Zielkonflikte in Organisationen betrifft. Der passende Umgang mit Risiken und Chancen stellt für jede Organisation eine fundamental wichtige Frage dar. Im Kurs Risiko stellen wir die wichtigsten Maßnahmen vor – auch, um mit der Verlustaversion besser umgehen zu können.

×

Membership Information

You have selected the Kostenlos membership level.

Der Preis für den Zugang beträgt 0.00€.

Account Informationen

FREI LASSEN
Sie haben schon einen Account? Hier einloggen