Wir erwerben jeden Tag neue Kenntnisse, die auf unsere Kompetenzentwicklung wirken. Wie gut sind wir aber in all diesen Dingen? Die Einschätzung unseres eigenen Status in Sachen Kenntnisse bzw. Kompetenzen ist schwierig und manchmal falsch. Der Dunning-Kruger Effekt spielt hier die zentrale Rolle.
Stell dir etwa vor, du beginnst zeitgleich mit einem Freund eine neue Sprache zu lernen. Nach einigen Tagen stellen sich erste Erfolge ein – während du bereits 20 Sätze beherrschst, kommt dein Freund bei gleichem Aufwand weniger rasch voran. Er hat gerade einmal eine Handvoll Wörter gelernt. Dennoch schätzt er seinen Fortschritt höher ein als du deinen. Warum dies so ist, diskutieren wir in diesem Artikel ebenso wie die Auswirkungen des Dunning-Kruger Effekt auf Karriere und Blockaden in Unternehmen.
Falsche Einschätzung der eigenen Kompetenz – der Dunning-Kruger Effekt
Du kommst beim Lernen der neuen Sprache – Spanisch – gut voran. Es fällt dir relevant leicht, neue Vokabeln zu lernen oder einfache Sätze zu bilden, die du dir gut für den Alltag merkst. Obwohl es sich sehr natürlich anfühlt, bist du etwas unzufrieden – es sollte inzwischen doch schon wesentlich mehr da sein. Da es sich für dich leicht anfühlt, glaubst du, es ist für alle anderen einfach.
Umgekehrte Situation bei deinem Freund: Er ist begeistert über seinen Fortschritt. Er hat wenige Wörter und simple Sätze gelernt, die er noch fehlerhaft ausspricht und die grammatikalisch oft nicht stimmen. Er hat wesentlich weniger als du gelernt, seine minimalen Kenntnisse verbauen jedoch die Sicht auf seine Fehler und seinen wahren Status. Ohne Vergleich überschätzt er seine Kompetenz deutlich und erkennt nicht, dass er etwa dir gegenüber hinterherhinkt.
Diese beiden Ausprägungen sind die zentralen Elemente des Dunning-Kruger Effekts. In beiden Fällen ist nicht nur das objektive Maß an Fortschritt bzw. Kenntnis unrichtig, sie sind spiegelverkehrt:
- Die Person mit unterdurchschnittlicher Kompetenz überschätzt sich.
- Die Person mit überdurchschnittlicher Kompetenz unterschätzt sich.
Die Konsequenz: Beide wissen nicht, wo sie wirklich stehen. Beide schätzen ihre Kompetenzen falsch ein. Beide können ihre Talente (etwa rasches Lernen einer neuen Sprache) nicht richtig einordnen.
Was wären die jeweiligen Antworten bei einer beliebten Rekrutierungsfrage: Was sind Ihre Stärken, was sind Ihre Schwächen (bzw. mittlerweile oft lieber als Herausforderungen oder Verbesserungspotenziale bezeichnet)? Was wäre deine Antwort darauf?
Der Hintergrund zum Dunning-Kruger Effekt
Dieses Phänomen wurde erstmals 1999 von den Psychologen David Dunning und Justin Kruger von der Cornell Universität beschrieben. Die Forscher stellten fest, wie sehr College-Studenten ihre schlechten Leistungen im täglichen Leben überschätzten, und prägten den Begriff „Doppelbelastung“ (dual burden). Er beschreibt, dass übermäßig selbstbewusste Menschen unter zwei Dingen leiden können: Unwissenheit sowie Unwissenheit über ihre eigene Unwissenheit. Dunning und Kruger testeten College-Studenten in verschiedenen Bereichen, darunter Humor, englische Grammatik und logisches Denken. Sie fanden heraus, dass diejenigen, die bei einem dieser Tests zu den untersten 25% gehörten, dazu neigten, sich selbst an der Spitze der Gruppe einzuschätzen. Umgekehrt ordneten sich die College-Studenten in den oberen 25% etwas niedriger ein, als sie tatsächlich waren.
Die Forscher führten eine ähnliche Studie mit Cornell-Studenten durch, die gerade ihre Abschlussprüfung abgelegt hatten. Sie baten die Studierenden, ihre eigenen Testergebnisse vorherzusagen, und überprüften sie dann, als sie ihre tatsächlichen Ergebnisse erhielten. Dunning und Kruger fanden heraus, dass der Effekt auch unter diesen organischen Bedingungen konsistent war.
Die beiden Forscher erklärten sich diese Ergebnisse primär mit zwei Faktoren:
- Wichtigkeit des Selbstbilds:
Viele Menschen haben von Natur aus ein positives Selbstbild und wollen glauben, dass sie kompetent und fähig sind. Wenn es dem Einzelnen an Wissen oder Fachkenntnissen in einem bestimmten Bereich mangelt, kann es sein, dass er trotzdem an diesem positiven Selbstbild festhält und seine Fähigkeiten überschätzt. Es kollidiert sonst mit dem Wunsch, sich selbst positiv zu sehen.
- Metakognition:
Die Fähigkeit, die eigenen Gedanken und Handlungen zu reflektieren und zu überwachen, spielt ebenfalls eine Rolle. Das Fehlen metakognitiver Fähigkeiten macht das genaue Einschätzen der eigenen Fähigkeiten schwierig. Wenn es etwa nicht gelingt, eigene Grenzen oder Kompetenzlücken zu erkennen, können Menschen etwa fälschlicherweise glauben, dass sie kompetenter wären, als sie es tatsächlich sind.
Der Effekt wurde in weiterer Folge nach den beiden Entdeckern benannt. Er bezeichnet eine kognitive Verzerrung, bei der Personen mit geringen Fähigkeiten oder Kenntnissen in einem bestimmten Bereich dazu neigen, ihre Kompetenz zu überschätzen. Personen mit höheren Fähigkeiten oder Kenntnissen tendieren eher dazu, ihre Kompetenz zu unterschätzen. Im Prinzip sind sich Menschen, denen es an Fachwissen mangelt, oft nicht bewusst, dass sie inkompetent sind. Diese fehlenden Kenntnisse bzw. Halbwissen führen zu dem Glauben, sie seien in dem entsprechenden Gebiet besser als andere.
Dunning-Kruger Effekt Beispiele – warum wir ihn praktisch ernst nehmen sollten
Es ist für uns wichtig zu erkennen, was wir gut können und was nicht. Auf Basis dieser Beurteilung treffen wir weitgehende Entscheidungen, von der Wahl der Ausbildung über Hobbys hin zu Spezialisierungen und beruflichen Wegen. Die eigene Lebensqualität hängt unmittelbar damit zusammen, Talente, Interessen und Kompetenzen möglichst gut nutzen zu können.
- Konsequenzen falscher Einschätzungen:
Wenn einem Dinge leichtfallen, bedeutet dies nicht, dass es für andere ebenso ist. Genauso muss das Gefühl, in etwas Neuem oder Herausforderndem Überragendes zu leisten, nicht zwingend richtig sein. Der Fehlschluss ist dann, im zweiten Fall ein Talent zu sehen, das in Wahrheit im ersten Beispiel liegt. Das Risiko: Die eigenen Prioritäten in etwas zu legen, das im besten Fall zu durchschnittlichen Leistungen führt. Die Zeit ist dann verloren, den wahren Kompetenzen Raum zu geben. Damit aber nicht genug.
- Unrealistische Erwartungen:
Der Dunning-Kruger Effekt kann Enttäuschungen bewirken, wenn andere die selbst erkannten „Talente“ nicht wahrnehmen oder schätzen. Unrealistische Erwartungen etwa im Beruf erzeugen Frustration – warum werde ich etwa bei Beförderungen regelmäßig übergangen, wenn ich doch so gut in meinem Feld bin? Ich sehe nicht, was andere – objektiv betrachtet – klar erkennen.
- Verpasste Chancen zur Entwicklung:
Wenn ich mich für besser halte, als ich es real bin, erkenne ich meinen Entwicklungsbedarf nicht – und verpasse so die Chance, von wirklich kompetenten Menschen zu lernen. Ich suche dann wohl auch weniger nach Möglichkeiten, meine Leistung zu verbessern (etwa auf der Basis von Feedback). Umgekehrt kann es dazu führen, die eigene Weiterentwicklung dort durchzuführen, wo es nicht mehr nötig ist. Ich glaube vielleicht, in einer Sache nur durchschnittlich zu sein, obwohl ich in Wirklichkeit über große Fähigkeiten verfüge. Dadurch könnte ich besser andere anleiten und betreuen, anstatt selbst Lücken zu füllen, die nicht bestehen.
Das Hauptmerkmal des Dunning-Kruger Effekts – die Diskrepanz zwischen wirklichen und wahrgenommenen Kompetenzen – führt dazu, weniger fundierte Entscheidungen zu treffen. Das hat Konsequenzen, die übers Individuum hinausgehen.
Unternehmen sind ebenso wie die Gesellschaft insgesamt betroffen, wenn talentierte Menschen ihre Fähigkeiten nicht voll entfalten, weil sie sie nicht erkennen. Gleichzeitig überschätzen sich diejenigen am meisten, die schlechte Leistungen erbringen, und streben mit größerer Wahrscheinlichkeit Führungsrollen oder andere Machtpositionen an. Sich selbst überschätzende Menschen sind nicht nur lehrresistent – da sie glauben, dass sie am meisten wissen -,, sondern sie geben auch die meisten Informationen weiter. Wenn diese Personen selbstbewusst ihren Standpunkt verkünden, werden wir ihnen eher glauben, unabhängig davon, ob die Informationen fundiert sind oder nicht.
Zusammenhang mit anderen Biases
Allein bereits sehr einflussreich, gibt es mehrere Biases, die beim Dunning-Kruger Effekt mitwirken bzw. ihn verstärken können.
- Overconfidence Bias:
Übermäßiges Vertrauen in eigene Fähigkeiten oder Wissen äußert sich dabei so, dass sie die eigenen Möglichkeiten überschätzen, den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Den Faktor Zufall negieren sie oder schätzen ihn geringer ein als real der Fall. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass die Unterschätzung eigener Kompetenzen nur beim Dunning-Kruger Effekt vorkommt.
- Confirmation Bias:
Die Tendenz, selektiv nach Informationen zu suchen, die ihre Überzeugungen bzw. Selbstwahrnehmung bestätigen, führt leicht in selbstverstärkende Denkmuster. Gegenläufige Informationen bzw. Fakten werden dann möglicherweise nicht einmal mehr wahrgenommen. Wenn Menschen ihre Fähigkeiten überschätzen, konzentrieren sie sich möglicherweise selektiv auf Fälle, die ihre überhöhte Selbsteinschätzung bestätigen, und ignorieren Beweise, die das Gegenteil nahelegen.
- Bias blind spot:
Ein Element des Dunning-Kruger Effekts betrifft die fehlende Metakognition. Sie spielt auch bei diesem Bias eine Rolle, der gedankliche blinde Flecken produziert: Kognitive Verzerrungen werden bei anderen Menschen erkannt, nicht bei sich selbst – die Übertragung auf eigene mögliche Biases findet nicht statt.
- Anchoring Bias:
Der Anchoring Bias kann zum Dunning-Kruger Effekt beitragen, indem er die anfängliche Wahrnehmung der eigenen Kompetenz beeinflusst. Menschen können ihre Selbsteinschätzung an einem ersten Eindruck oder einem begrenzten Verständnis der Aufgabe festmachen. Sie bewegen sich gedanklich zu wenig weit weg und verfestigen so das erste Bild.
- Fundamental Attribution Error:
Bei diesem Bias wird das Verhalten anderer bei negativen Ereignissen auf persönliche Merkmale zurückgeführt, während das eigene Verhalten im selben Fall mit externen Faktoren erklärt wird. Umgekehrt erklären sich positive Ereignisse durch eigene Kompetenzen bzw. durch Glück oder Zufall im Falle anderer. Daher gibt es auch hier ein Fehlurteil hinsichtlich eigener Kenntnisse, die zu Wechselwirkungen mit dem Dunning-Kruger Effekts führen können.
Gegenstrategien individuell und in Organisationen
Du hast vielleicht schon einmal als Vorbereitung auf ein Jobinterview Freunden oder früheren Kolleginnen oder Kollegen die Frage gestellt: „Was kann ich gut?“ – dies ist bereits eine einfache Möglichkeit, die eigene Beurteilung deiner Kompetenzen zu hinterfragen bzw. zu schärfen. Das Verständnis des Dunning-Kruger Effekts führt vielleicht dazu, diese Frage öfter zu stellen. Es geht darum zu erkennen, wann du deinen eigenen Fähigkeiten vertrauen kannst und wann du besser die Meinung anderer einholen solltest. Das Ziel ist, wichtige Entscheidungen in einem möglichst objektiven Licht treffen zu können.
Daneben empfehlen sich folgende Maßnahmen:
- Perspektivenwechsel:
Das Selbstbild zu schärfen ist eine herausfordernde Sache, dennoch der wichtigste Startpunkt. Niemand kann deine Situation, deine Erfahrungen und deinen Kontext besser beurteilen als du selbst. Dieses Wissen gilt es zu nutzen – manchmal braucht es einen externen Schub, um den Prozess zu einem objektiveren Selbstbild in Schwung zu bringen. Formate wie Coaching, Sparring oder Mentoring können dies leisten und bieten einen geschützten Rahmen zur Reflexion und Konkretisierung.
- Vergleich mit anderen:
Es gibt Effekte wie etwa FOMO, bei denen der Vergleich mit anderen negativ wirkt. Dennoch ist er hier zu empfehlen, da er den Zugriff auf objektive Fakten ermöglicht. Zuhören, fragen, vergleichen – bei unserem Beispiel ganz am Beginn wäre es für beide durch Vergleich einfach möglich, ihren wahren Fortschritt beim Sprachstudium feststellen zu können.
- Feedback:
Manchmal kritisiert, ist konstruktives Feedback dennoch eine gute Chance. Es sollte sich natürlich in einem passenden Rahmen abspielen und nicht als absolute Wahrheit, sondern als Austausch von Wahrnehmungen, positioniert sein (für Tipps dazu siehe unseren Artikel Feedback). Manche Menschen lehnen Feedback strikt ab, verpassen aber so die Möglichkeit, eine externe Perspektive zu konkreten Fragen (etwa Kompetenzen) zu erhalten – eine konstruktiv-neugierige Haltung (wie für De-Biasing) empfiehlt sich.
Das Konzept des lebenslangen Lernens hilft zusätzlich, eigene Kompetenzen entwickeln zu wollen – die Voraussetzung dabei ist, die möglichen Limits des Dunning-Kruger Effekts zu kennen und zu meistern.
Wir haben uns auch über die Maßnahmen auf der organisatorischen Ebene Gedanken gemacht bzw. uns die Kritik zum Dunning-Kruger Effekt angesehen. Kontaktiere uns gerne und wir senden dir eine Zusammenfassung zu!
Zusammenfassung
Der Dunning-Kruger Effekt hat direkt mit unserem Urteil über uns selbst zu tun, insbesondere mit der Einschätzung eigener Stärken und Schwächen. Die Beschäftigung mit ihm erlaubt es, eigene blinde Flecken bewusst zu machen sowie die Möglichkeit zu finden, unsere Selbstwahrnehmung anzupassen.
Für diejenigen, die diesem Effekt zum Opfer fallen, kann es schwierig sein, ihre persönliche Einschätzung zu korrigieren. Dazu muss man einen Schritt zurücktreten und sich bewusst machen, dass man anfällig für eine verzerrte Selbsteinschätzung ist. Auf individueller Ebene empfiehlt sich, die besprochenen Maßnahmen wie Perspektivenwechsel (etwas durch Coaching) oder gezieltes Feedback durchzuführen.
In Unternehmen braucht es ein Bündel von Maßnahmen, da die Leistung bzw. Minderleistung der Organisation direkt mit dem Effekt verbunden sein kann. Kontaktiere uns gerne für eine Übersicht empfohlener Schritte!
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Aspekte des Effekts kritisch diskutiert werden, insbesondere die Themen über die Metakognition. Wir senden dir gerne Details zu, wenn du uns dein Interesse wissen lässt.
Weiterführende Quellen:
- Kruger, J., & Dunning, D. (1999). Unskilled and unaware of it: How difficulties in recognizing one’s own incompetence lead to inflated self-assessments. Journal of Personality and Social Psychology, 77(6), 1121-1134. https://doi.org/10.1037/0022-3514.77.6.1121
- Murphy, M. (2017, January 24). The Dunning-Kruger Effect Shows Why Some People Think They’re Great Even When Their Work Is Terrible. Forbes. https://www.forbes.com/sites/markmurphy/2017/01/24/the-dunning-kruger-effect-shows-why-some-people-think-theyre-great-even-when-their-work-is-terrible/?sh=23923d575d7c
- Cherry, K. (2023, April 6). An overview of the Dunning-Kruger effect. Verywell Mind. https://www.verywellmind.com/an-overview-of-the-dunning-kruger-effect-4160740
- Ted-Ed. (2017, November 9). Why incompetent people think they’re amazing – David Dunning [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=pOLmD_WVY-E&ab_channel=TED-Ed
Alle Links, die wir im Text verwendet haben
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