Stolpersteine des Verstehens

Silvia Kessler-Eckhart über ihre Erfahrungen im Coaching und als Psychotherapeutin

Die Bedeutung kultureller und sozialer Unterschiede
Große biografische Parallelen
Scheinbar schon Bekanntes
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Als Psychotherapeutin und Coach ist es immer wieder eine Herausforderung, ganz unterschiedliche Menschen zu verstehen. Es erfordert in der täglichen Arbeit, bei jeder Person immer wieder genau zuzuhören, nachzufragen und ihre Erfahrungen im individuellen Kontext zu verstehen, um keiner vorschnellen Einordnung zu unterliegen.

In Coaching- oder Therapieprozessen ist dies essentiell. Aber auch in anderen Bereichen, in denen Menschen zusammenarbeiten oder leben, ist echtes Verstehen oft für gelingende Kommunikation ein entscheidender Faktor. Menschen befinden sich manchmal in Lebensumständen, deren ganz besondere Herausforderungen man auf den ersten oder zweiten Blick von außen (mit der eigenen, speziell gefärbten Brille) nicht wahrnimmt.

Auch als Therapeutin oder Coach kommt man aus einem bestimmten Lebensumfeld und mit einer eigenen Biografie und muss häufig sehr genau darauf achten, sich keine vorschnellen Urteile zu machen, um dem Gegenüber nicht mit Vorurteilen zu begegnen. So ergeben sich Situationen, die ein besonderes Risiko bergen, dem Gegenüber mit allzu schneller Einordnung zu begegnen, die ihm letztlich nicht gerecht werden kann. Drei dieser möglichen Stolpersteine möchte ich hier darstellen.

Zu große kulturelle und soziale Unterschiede

Eine schwierige Situation ergibt sich oft, wenn es nötig ist, über den eigenen kulturellen und sozialen Tellerrand zu schauen. Dann, wenn man Menschen gerecht werden möchte, deren kultureller oder sozialer Hintergrund sich maßgeblich von unserem eigenen unterscheidet. Dass Menschen mit Migrationsgeschichten häufig zwischen den Stühlen der Kulturen und der Identitäten sitzen, ist so weit durchaus bekannt. Doch was bedeutet das wirklich?

Oft sind es grundlegende Werte, mit denen Menschen aufgewachsen sind, die sich von mitteleuropäischen Werten maßgeblich unterscheiden. Die junge Klientin aus dem Iran, die wie viele andere Menschen auch mit den Dynamiken ihrer Herkunftsfamilie kämpft, ist etwa mit dem gut gemeinten Rat: „Grenzen Sie sich doch besser ab!“, nicht sehr gut beraten. Hier ist es nötig, als Beraterin mit anderem kulturellen Hintergrund erst zu verstehen, was „Abgrenzung von der Familie“ für diese junge Frau bedeutet. Erst auf genaueres Nachfragen wird mir mitgeteilt, dass es in der Familie etwa nicht üblich ist, eine Tür innerhalb der Wohnung zu schließen, und es als „zu österreichisch“ wahrgenommen wird, der Mutter einen Wunsch auszuschlagen.

Um darüber zu recherchieren, bin ich auf Studien gestoßen, die etwa von entwicklungspsychologischen Unterschieden der frühen und späten Kindheit sprechen, die den Ablösungsprozess von Mutter und Kind als weniger ausgeprägt und weniger erwünscht als in europäischen Kulturen beschreiben. Ablösung und Abgrenzung können hier also als wesentlich bedrohlicher und schambehafteter erlebt werden, als europäisch sozialisierte Menschen dies nachempfinden können. Wenn wir hier nicht genau nachfragen, recherchieren und im Kontext verstehen wollen, werden wir als europäisch sozialisierte Menschen, keine guten und hilfreichen Begleiter sein. Im Gegenteil, wir werden ein möglicherweise vorhandenes Gefühl der Hilflosigkeit noch verstärken.

Situationen außerhalb der eigenen Lebenswelt

Eine andere Lebenssituation, die meiner Wahrnehmung nach für europäisch sozialisierte Menschen schwer nachzuvollziehen ist, betrifft etwa die Situation arabischer Frauen, die in der Kopftuchfrage (nicht nur hier) häufig wirklich zwischen allen Stühlen sitzen. Eine junge Klientin aus einer strenggläubigen, muslimisch-arabischen Familie hat den unfassbar schwierigen Weg gewählt, sich von der eigenen Familie und den religiösen Normen zu distanzieren. Dies war nur mit Kontaktabbruch und dem Annehmen einer neuen Identität möglich, da dies für die junge Frau anders eine (Lebens-)Gefährdung gewesen wäre.

Nun könnte man meinen: „Ende gut, alles gut“ und die junge Frau zu ihrem Mut beglückwünschen. Diesen Mut benötigt die Klientin allerdings täglich aufs Neue. Als junge Frau mit deutlich sichtbar arabischer Abstammung ist sie beinahe täglich mit Männern konfrontiert, die sich das Recht herausnehmen, sie als arabische Frau ohne Kopftuch zu diffamieren oder auch zu bedrohen.

  • Der Pizzabote, der an der Tür fragt, woher sie kommt und ob sie Muslima ist. Der sich mit ihrer ausweichenden Antwort nicht zufriedengeben will und sie bedrängt und denkt, ein Recht auf eine Antwort zu haben.
  • Die jungen arabischen Männer, die ihr auf der Straße nachrufen und sie unflätig beschimpfen, weil sie ein T-Shirt mit Ausschnitt trägt.

Warum erzähle ich das? Weil diese junge Frau ihren österreichischen Freunden davon berichtet und dabei sagt, sie würde sich einmal wünschen, in einem Land ohne arabische Männer zu leben. Aus der Lebensgeschichte der Klientin ist das sehr verständlich.

Doch wie reagieren die österreichischen Freunde darauf? Die jungen Studenten und Studentinnen reagieren betreten und meinen, dass das doch rassistisch sei. Es ist ihnen peinlich, was sie hören, und es ist nicht mit ihrem Wertesystem vereinbar. Die junge Frau verstummt somit und bleibt mit Ihrem Erleben allein. Sie wird nicht verstanden, weil das Verstehen nur aus dem eigenen Wertesystem heraus erfolgt.

Diese beiden Erfahrungen stammen aus der Arbeit mit Klientinnen aus anderen Kulturkreisen, weil sie sich besonders deutlich darstellen lassen. Es gilt das Gleiche aber auch für soziale Lebensumstände, die einem selbst fremd sind, wie etwa Armut. Deren Auswirkungen kann man nicht ausschließlich erfassen, wenn man aus der eigenen Erfahrung darauf blickt. Man muss aufmerksam zuhören und verstehen, dass eigene Erfahrungen und Wertesysteme den Blick auf das Gegenüber verstellen können.

 

Zu große biografische Parallelen

Ein ganz anderer möglicher Stolperstein des Verstehens ist eine zu ähnliche persönliche Biografie. Eigentlich eine scheinbar komfortable Situation für eine beratende, begleitende Person. Das Gegenüber hat eine Lebenssituation zu bewältigen, die man selbst schon erlebt hat und durch die man gut durchgekommen ist.

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Wie relevant ist das Thema außerhalb von Therapie oder Coaching?

Wie anfangs bereits erwähnt, spielt die Frage, wie weit ich jemanden tatsächlich verstehe und wie weit ich nur annehme zu verstehen, nicht nur im Kontext von Therapie oder Coaching eine Rolle. Auch in anderen professionellen und privaten Kontexten ist es ein Hemmnis in der Kommunikation und Beziehungsgestaltung, missverstanden, oberflächlich oder ungenau verstanden zu werden.

So kann es etwa in der Führung einen entscheidenden Unterschied machen, ob man Menschen differenziert oder undifferenziert und oberflächlich versteht. Dabei ist die Erfahrung, wirklich verstanden zu werden, eine, die Türen öffnen kann zu vertrauensvoller Kommunikation, sicheren (auch professionellen) Beziehungen und nicht zuletzt zu echter menschlicher Begegnung.

 

Was braucht es nun, um echtes Verstehen zu ermöglichen?

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Wie ist Ihre Erfahrung damit, andere Personen zu verstehen oder misszuverstehen?

Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht, sich wirklich verstanden zu fühlen, und was hat das bei Ihnen bewirkt?

Welche Rolle spielt menschliches Verstehen Ihrer Meinung nach in beruflichen Kontexten?

Hat es Sie persönlich vielleicht auch schon bereichert, Zeit und Aufmerksamkeit zu investieren, um jemanden besser verstehen zu können?

 

Empfehlung: Die Anwendungsfelder Wahrnehmung bzw. Interaktion thematisieren wir auf der Plattform in verschiedenster Form. Hier sind weitere Anregungen:

Silvia Kessler-Eckhart

portrait silvia kessler-eckhart

Psychotherapeutin und Coach, humanistisch ausgebildet in personzentrierter Psychotherapie nach Carl Rogers. Weiterbildung in modernen neuropsychotherapeutischen Methoden (etwa Brainspotting, Traumafokus).  Arbeitsschwerpunkt u. a. mentale Gesundheit im Arbeitskontext. Workshopleitung zu Gesprächsführung, Persönlichkeitsentwicklung, mental health care u. a.  Gründerin und Partnerin von human work.

Zur Webseite von Silvia Kessler-Eckhart

 

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